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  • 27 May 2020

Interview mit Perspektiven der Wirtschaftspolitik

Interview mit Isabel Schnabel, Mitglied des Executive Board der EZB, geführt von Karen Horn

Am 5. Mai erging das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Anleihekaufprogramm der EZB, dem „Public Sector Purchase Programme“ (PSPP).[1] Demnach sind diese Anleihekäufe teilweise verfassungswidrig, und der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats der EZB verfehlt. Wie stehen Sie dazu und was folgt für die EZB daraus?

Das Urteil richtet sich nur an Bundesregierung und Bundestag, die jetzt angehalten sind, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung der Anleihekäufe durch die EZB hinzuwirken. Das ist aus zwei Gründen problematisch: erstens hat der für die EZB zuständige Europäische Gerichtshof (EuGH) das PSPP als vereinbar mit dem EU-Recht erklärt. Zweitens ist die EZB gemäß Artikel 130 AEUV eine unabhängige Institution und folgt nicht den Weisungen nationaler Behörden. Das Urteil des EuGH ist für uns weiterhin maßgeblich, und deshalb besteht keine Notwendigkeit, unsere Geldpolitik zu verändern. Eine gute Nachricht ist, dass das neue Anleihekaufprogramm, das wir aus Anlass der gegenwärtigen Corona-Pandemie aufgelegt haben, das Pandemic Emergency Purchase Programme oder abgekürzt PEPP, nicht Gegenstand des Karlsruher Urteils war. Die Marktentwicklungen zeigen, dass dies auch von den Marktteilnehmern so wahrgenommen wird, trotz der Unsicherheit zu Beginn. Wir werden also weiterhin das tun, was erforderlich ist, um unserem Mandat der Preisstabilität gerecht zu werden und die Transmission der einheitlichen Geldpolitik im gesamten Euroraum sicherzustellen. Gleichzeitig ist für uns natürlich wichtig, was in Deutschland passiert, dem größten Mitgliedstaat des Währungsraums.

Unmittelbarer betroffen als die EZB ist die Bundesbank, die „mit Blick auf die unter dem PSPP getätigten Ankäufe für eine abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihe Sorge zu tragen hat“, falls die genannte Frist nicht eingehalten wird.

Ja, im Urteil ist explizit eine Frist von drei Monaten genannt. Wenn bis dahin der vom Bundesverfassungsgericht geforderte Nachweis der Verhältnismäßigkeit nicht erbracht ist, dürfte die Bundesbank laut dem Urteil des Bundesverfassungsgericht nicht mehr an Anleihekäufen im Rahmen des PSPP teilnehmen. Ich bin zuversichtlich, dass eine solche Situation vermieden werden kann. Übrigens hat die EZB schon immer – bei der Vorbereitung, der Verabschiedung und dem Einsatz – des PSPP und ihrer anderen geldpolitischen Maßnahmen Wirkungen und Nebenwirkungen analysiert und gegeneinander abgewogen. Es gibt hierzu eine Vielzahl von Dokumenten, von denen viele auch öffentlich verfügbar sind, darunter die Zusammenfassungen der geldpolitischen Diskussionen aus den Ratssitzungen. Solche Dokumente sind dem EuGH von der EZB im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens vorgelegt worden und sind sicherlich in die rechtliche Bewertung eingeflossen.

Echte „Minutes“ werden aber noch immer nicht veröffentlicht.

Wir veröffentlichen „Monetary policy accounts“, das ist eine etwas reduzierte Version der „Minutes“.[2] Diese Zusammenfassungen sind sehr detailliert. Man kann ihnen vieles über die Diskussionen entnehmen, die im EZB-Rat geführt werden. Sie stehen sinnbildlich für die Transparenz unserer Arbeitsweise und unser Bestreben, unsere geldpolitischen Maßnahmen stets ausreichend zu begründen. Wir sind im Übrigen gegenüber dem europäischen Parlament rechenschaftspflichtig, und dort finden regelmäßig Anhörungen zur Geldpolitik (die sogenannten monetären Dialoge) statt. In diesem Rahmen steht die EZB-Präsidentin, oder früher der EZB-Präsident, den Abgeordneten Rede und Antwort zur Geldpolitik. Dieser Austausch wird live im Internet übertragen und ist in veröffentlichten Wortprotokollen festgehalten. Auch daraus geht hervor, dass eine Abwägung der Wirkungen und Nebenwirkungen unserer geldpolitischen Entscheidungen regelmäßig stattfindet.

Die Abwägung findet statt, und die Dokumentation so zu gestalten, dass die Abwägung für Gerichte nachvollziehbar ist, lässt sich machen. Heißt das, das Urteil war übertrieben?

Es steht mir nicht zu, dazu eine Bewertung abzugeben. Die dem Urteil zugrundeliegenden rechtlichen Annahmen reichen aber über den konkreten Fall des PSPP hinaus, denn es geht vorrangig um das generelle Verhältnis zwischen EU-Recht und nationalem Recht. Das Primat des EU-Rechts ist ein wesentliches Fundament der Europäischen Union. Es wäre sehr wichtig, dass der EuGH und das Bundesverfassungsgericht ein gemeinsames Verständnis finden und kooperativ zusammenarbeiten.

Am 5. Mai, als das Urteil verkündet wurde, sagte der Moderator des Heute-Journals, es gehe „um 2600 Milliarden Euro, die die Europäische Zentralbank in den Jahren 2014 bis 2018 auf Pump in den Geldkreislauf pumpte, und damit die Sparer um ihre Zinsen brachte“. Dieses Narrativ von der angeblichen Enteignung der Sparer, das die Kläger transportierten und das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil teilweise übernimmt, setzt sich offenbar fest. Sie können darüber nicht glücklich sein.

Das Thema falscher Narrative zur Geldpolitik der EZB beschäftigt mich schon sehr lange. Natürlich kann sich eine Zentralbank, nur weil sie unabhängig ist, nicht gegen Kritik immunisieren. Ganz im Gegenteil. Aber es besorgt mich, dass sich gerade in Deutschland diese Narrative von der Enteignung des Sparers, den Strafzinsen, der Geldschwemme, der drohenden Inflation und den Zombieunternehmen entwickelt und festgesetzt haben, trotz zahlreicher Fakten, die eine andere Sichtweise nahelegen. Diese Narrative wurden von den Medien immer wieder verwendet und dadurch verstärkt. Wir wissen ja, stetes Wasser höhlt den Stein. Wenn die Menschen etwas häufig genug hören, fangen sie irgendwann an, es zu glauben. Das war übrigens auch der Grund, warum ich im Februar meine erste große Rede[3] in meiner neuen Funktion genau diesem Thema gewidmet habe, interessanterweise ausgerechnet in Karlsruhe.

Aber nicht am Verfassungsgericht, sondern der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe.

Ja, es war sogar eine Reihe von Bundesrichtern anwesend, aber niemand vom Bundesverfassungsgericht. Diese Narrative, die ich in Karlsruhe versucht habe zu entkräften, haben sich im Urteil des Bundesverfassungsgerichts nach meinem Verständnis unwidersprochen wiedergefunden. Übrigens habe ich in meiner Rede ja nicht nur gesagt, dass ich die Dinge anders sehe. Gemeinsam mit den EZB-Mitarbeitern habe ich mir viel Mühe gegeben, die einzelnen Narrative im Detail durchzugehen und Daten und empirische Studien heranzuziehen, und habe gezeigt, wo die Trugschlüsse liegen. Man kann über den einen oder anderen Punkt sicher diskutieren, aber hierzu sollte man Fakten nutzen, um die Argumente zu entkräften.

Wo liegen denn die Trugschlüsse?

Die Evidenz ist in vielen Punkten ziemlich erdrückend, so dass sich die meisten Narrative nicht halten lassen. Es beginnt ja schon damit, dass viele Menschen nicht verstehen, warum die Zinsen so niedrig sind. Entgegen dem gängigen Narrativ ist es nicht in erster Linie die Zentralbank, die das verursacht. Viel bedeutender sind die strukturellen makroökonomischen Trends, zum Beispiel die Demografie und die Entwicklung der Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft, die Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Investition und Ersparnis haben. Sie bestimmen den sogenannten realen Gleichgewichtszins, an dem sich die Zentralbanken orientieren müssen. Das ist der Zins, der sich ergibt, wenn sämtliche Produktionsfaktoren voll ausgelastet sind und keinen Preisdruck ausüben.

Und diese Wachstumsquellen haben sich abgeschwächt.

Genau. Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter geht im Euroraum zurück. Und während das jährliche Produktivitätswachstum in den achtziger Jahren im Euroraum im Durchschnitt noch etwa 2 Prozent betrug, liegt es heute nur bei etwas weniger als der Hälfte. Bei sehr geringen oder sogar negativen realen Gleichgewichtszinsen kann die Zinspolitik an die effektive Nullzinsgrenze stoßen. Daher gehen Zentralbanken, so auch die EZB, bei sehr niedrigen kurzfristigen Zinsen typischerweise zu unkonventionellen Maßnahmen über, zumal sich im Euroraum ab dem Jahr 2014 ausgesprochen niedrige und teilweise sogar negative Inflationsraten einstellten. Das Bündel der geldpolitischen Maßnahmen hat der Wirtschaft im Euroraum in den vergangenen Jahren entscheidende Impulse gegeben. Die Kreditkosten für Unternehmen und Haushalte sind deutlich gesunken, und zwar stärker, als allein aufgrund der Senkung der Leitzinsen zu erwarten gewesen wäre. Das hat die Kreditnachfrage belebt und somit Investitionen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze unterstützt. Ohne die Maßnahmen wäre die Beschäftigung im Euroraum 2019 laut unseren Schätzungen um mehr als 2 Millionen Arbeitnehmer geringer gewesen, das Bruttoinlandsprodukt um 2,5 bis 3 Prozent geringer.

Sie haben in Ihrer Karlsruher Rede auch darauf hingewiesen, dass das Narrativ von der Enteignung des deutschen Sparers schon deswegen falsch ist, weil es kein Eigentumsrecht auf hohe Sparzinsen gibt und weil es auch nicht Teil des Mandats der EZB ist, Sparern Rendite zu sichern.

Ja, und vor allem neigen einige Menschen dazu, den Effekt der niedrigen Zinsen zu negativ zu sehen und zu überschätzen. Die mittlere reale Verzinsung für Spar- und Sichteinlagen entspricht in Deutschland seit der Einführung des Euros etwa dem Durchschnitt der 24 Jahre davor. Vor allem aber besteht Deutschland nicht nur aus Sparern, sondern auch aus Kreditnehmern, Steuerzahlern, Hausbesitzern und Arbeitnehmern. Für einen repräsentativen Haushalt steht auf der reinen Zinsrechnung für den Zeitraum von 2007 bis 2017 unter dem Strich sogar ein kleines Plus. Gerade die Mittelschicht, der die meisten Kreditnehmer angehören, hat von der Niedrigzinspolitik profitiert.

Auch die Sorge, dass die niedrigen Zinsen Firmen am Leben erhalten, die unter normalen Bedingungen eingehen müssten und auch sollten, teilen Sie nicht.

Diese Sorge lässt sich durch die Empirie nicht belegen. Eine systematische Zunahme der Zahl unprofitabler Unternehmen in den Jahren der expansiven Geldpolitik ist in den Daten einfach nicht zu erkennen, ganz im Gegenteil: sie ist sogar gefallen. Günstigere Finanzierungsbedingungen kommen ja allen Firmen zugute, vor allem aber profitablen und gesunden Unternehmen, bei denen die Banken eher bereit sind, günstige Kredite zu gewähren, als bei unrentablen und hoch verschuldeten Unternehmen. Auch dieses Narrativ lässt sich also nicht erhärten, wenn man sich mit den ökonomischen Zusammenhängen und mit der Empirie näher auseinandersetzt. Aber vielleicht sind die inhaltlichen Erwägungen am Ende des Tages gar nicht der entscheidende Punkt.

Sondern?

Im Fokus stehen vermutlich vor allem die Prozeduren. Die kann man immer verbessern und dabei beispielsweise die Transparenz erhöhen. Tatsächlich ist uns Transparenz sehr wichtig. Wir geben uns schon jetzt viel Mühe, besser zu erklären, was wir tun, mit Erklärvideos, Hintergrundtexten und Ähnlichem auf der EZB-Internetseite oder auf Twitter. Es ist ein erklärtes Ziel der EZB-Präsidentin, besser zu kommunizieren – nicht nur mit den Finanzmärkten, sondern auch mit den europäischen Bürgerinnen und Bürgern. Die große Bedeutung, die diese irreführenden Narrative faktisch haben, zeigt uns aber, dass es offenbar den Zentralbanken bisher noch nicht gelungen ist, mit der Bevölkerung direkt und effizient zu kommunizieren. Wir müssen das noch viel besser machen; meine Karlsruher Rede war ein erster Versuch, das zu tun. Insofern nehmen wir das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch als Ansporn. Wir wollen, dass die Geldpolitik verstanden wird, und vor allen Dingen, dass den Menschen klar wird, dass wir etwas tun, was ihnen nutzt. Doch die Geschichte, die in Deutschland erzählt wird, ist ja genau das Gegenteil: die EZB-Politik nutze anderen, aber auf jeden Fall nicht den Deutschen. Das ist eine gefährliche Fehlwahrnehmung, wenn man bedenkt, wie stark gerade Deutschland vom Euro profitiert hat. Ich möchte versuchen, dieses Bild zu korrigieren.

Müssen wir vor dem Hintergrund des Urteils nun erst recht von der Vorstellung verabschieden, dass die EZB sozusagen alles reparieren kann? Wie stark ist der andere Arm der Wirtschaftspolitik, die Fiskalpolitik? Was braucht es, damit Geld- und Fiskalpolitik besser Hand in Hand gehen?

Die Wirksamkeit der Geldpolitik ist größer, wenn sie von einer entsprechenden Fiskalpolitik unterstützt wird. Mein Eindruck ist, dass man das in der gegenwärtigen Krise auch sehr gut verstanden hat. Dass bei einem derartig schweren Schock, wie wir ihn gerade erleben, die Fiskalpolitik aktiv werden muss und dass die Geldpolitik allein die Krise nicht beheben kann, scheint allen klar zu sein. Aber nicht alle Länder haben dieselben Möglichkeiten. Tatsächlich sind die Länder, die schwerer getroffen wurden, oft gerade diejenigen, die über geringere fiskalische Spielräume verfügen. Deshalb besteht die Sorge, dass in diesen Ländern zu wenig getan wird, um die Krise zu überwinden. Das stellt nicht nur für die Entwicklung dort ein Problem dar, sondern hat Ausstrahlungseffekte auf ganz Europa. Es könnte zu einer wirtschaftlichen Divergenz zwischen den Mitgliedstaaten führen, was die Transmission der Geldpolitik in alle Teile des Währungsraums erschweren würde. Zudem sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union derart eng miteinander verflochten, dass eine schwache Entwicklung in einigen Mitgliedstaaten auch die anderen beeinträchtigt. Man muss bei der Lösung der Krise daher unbedingt europäisch denken.

Wenn es Deutschland gut geht und allen anderen Ländern schlecht, leidet auch Deutschland.

Eben. Und darum müssen wir alles daran setzen zu verhindern, dass die bestehende Divergenz zwischen den Mitgliedstaaten jetzt durch die Krise noch weiter wächst. Für die Geldpolitik würde das ein großes Problem darstellen, aber natürlich ebenso für die europäische Integration und das Zusammengehörigkeitsgefühl. Deshalb sind die europäischen Initiativen so wichtig. Sie können dabei helfen sicherzustellen, dass in allen Mitgliedstaaten das Nötige getan wird, um die Krise zu überwinden. Wir befinden uns in der schwersten Krise seit der Weltwirtschaftskrise, und es lässt sich nicht ausschließen, dass die Bilanz in manchen Ländern am Ende noch schlimmer ausfällt als damals. Das ruft zum einen nach Solidarität. Wir müssen uns in der Europäischen Union in dieser schweren Krise gegenseitig unterstützen. Zum anderen erfordert es aber auch im eigenen Interesse jedes einzelnen Mitgliedstaats eine europäische Antwort.

Die Krise trifft die EU aber in einem denkbar ungünstigen Moment. Die Mitgliedstaaten waren schon mal einiger, die Brüsseler Institutionen erscheinen geschwächt, und die EZB hat ja nicht nur mit einem Gerichtsurteil aus Karlsruhe derzeit Mühe, sondern auch schon damit, dass ihr eigener Instrumentenkasten geschrumpft und sie auf eine unkonventionelle Geldpolitik angewiesen ist.

Diese Einschätzungen teile ich nicht. Die EZB hat auf die Krise geldpolitisch sehr schnell und entschieden reagiert, auch weil man aus den vergangenen Krisen, der Finanzkrise von 2008 und der darauf folgenden Eurokrise, viel gelernt hatte und bereits Erfahrungen mit neuen geldpolitischen Instrumenten gesammelt hatte. Man hat den Instrumentenkasten sehr schnell an die jetzige Krise anpassen können und rasch verstanden, um welche Art von Krise es sich handelt. Das würde ich nicht geringschätzen. Auch die Fiskalpolitik ist national in vielen Ländern schnell aktiv geworden. Wer hätte es in Deutschland für möglich gehalten, in welcher Geschwindigkeit man diese gewaltigen Programme aus dem Boden stampfen kann? Auf der europäischen Ebene gibt es ebenfalls Bewegung. Man hat weitgehend die drei Kernbestandteile des Unterstützungsprogramms – das Arbeitsmarktprogramm SURE, den Garantiefonds über die Europäische Investitionsbank (EIB) und ein spezielles pandemisches ESM-Programm mit geringer Konditionalität – festgezurrt. Der jüngste deutsch-französische Impuls zur Gestaltung des geplanten Wiederaufbaufonds ist ebenfalls sehr ermutigend, und ich bin gespannt auf den angekündigten Vorschlag der Europäischen Kommission. Dieser Fonds ist besonders wichtig, weil er auf die Zukunft ausgerichtet sein wird und den Ländern nicht nur hilft, den akuten wirtschaftlichen Schock zu überwinden, sondern nachher auf einen nachhaltigen und von Reformprozessen begleiteten Pfad des Wirtschaftswachstums zurückzufinden. Solche Entscheidungen dauern in Europa immer ein bisschen länger, weil wir eine komplizierte Governance haben. Aber ich finde die aktuellen Entwicklungen sehr begrüßenswert, selbst wenn wir noch nicht am Ziel sind.

Die EZB hat am 12. März ein erstes und am 18. März ein zweites großes Maßnahmenpaket aufgelegt, dessen Herzstück das schon genannte PEPP ist. Wie stark waren diese Maßnahmen von den Ereignissen in Italien und der Sorge darum getrieben, dass Italien in Nöte geraten könnte, die dann für den ganzen Euroraum ein Desaster würden? Italien ist ja seit der Finanzkrise ein Sorgenkind.

Unsere Sorge war nicht Italien. Unsere Geldpolitik orientiert sich am gesamten Euroraum. Zwischen dem 12. März, dem Tag unseres ersten geldpolitischen Pakets, und dem 18. März, als wir PEPP angekündigt haben, ist es zu schweren Verwerfungen an den Finanzmärkten gekommen. Die Aktienkurse sind weiter eingebrochen, die Risikoprämien für Staatsanleihen sind spürbar auseinandergedriftet, und die Marktliquidität ist eingetrocknet. Man konnte geradewegs zusehen, wie sich die Finanzmarktdaten im Sekundentakt verschlechterten. Die Risiken, die mit diesen Entwicklungen für das Wachstum, die Beschäftigung und die Preisentwicklung im Euroraum einhergingen, waren beträchtlich. Darum haben wir mit einem neuen Programm reagiert, das genau auf diese Situation abgestimmt war. PEPP hat die Märkte beruhigt und die Fragmentierung im Euroraum eingedämmt. Man kann in vielen Zeitreihen sehen, wie genau in dem Moment, als die EZB ihr PEPP-Paket aufgelegt hat, eine Trendwende eingetreten ist.

Sind Sie denn mit der Entwicklung seither zufrieden?

Es ist uns gelungen, die Finanzmärkte zu stabilisieren, im Verbund mit den anderen großen Zentralbanken. Alle wurden nahezu gleichzeitig tätig. Auch die Fiskalpolitik hat gehandelt. Allerdings sind die Finanzierungsbedingungen für Firmen und Banken immer noch ungünstiger als vor der Krise. Wir haben nach wie vor höhere Risikoprämien in vielen Segmenten. Man kann also nicht behaupten, dass wir jetzt in einer entspannten Situation seien. Das spiegelt nicht zuletzt die realwirtschaftlichen Folgen der Krise wider. Die Auswirkungen werden tiefer sein und länger andauern, als ursprünglich erwartet. Und die Welt wird eine andere sein. Wenn man im Moment Wirtschaftsprognosen macht, denkt man in Szenarien, weil die Unsicherheit so groß ist. Aber im Vergleich zu der Eskalation, die wir Mitte März hatten, hat sich die Lage spürbar beruhigt, und dazu hat ganz klar die Geldpolitik der EZB beigetragen.

Es gab eine intensive Diskussion darüber, ob es nicht besser gewesen wäre, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu nutzen und das Programm der Outright Monetary Transactions (OMTs) zu aktivieren – schon deshalb, weil über den ESM noch wenigstens eine demokratische Teilkontrolle gewährleistet ist. Was ist aus Ihrer Sicht der entscheidende Unterschied, und was ist der relative Vorteil der Lösung, die man stattdessen gewählt hat?

Das OMT-Programm wurde vor dem Hintergrund der besonderen Krisensituation im Jahr 2012 entwickelt. Hierbei ging es um den Fall, dass es in einem oder mehreren Mitgliedstaaten im Markt zu selbsterfüllenden und selbstverstärkenden Dynamiken außerhalb der eigenen Kontrolle kommt, die diesen Staat unter finanzpolitischen Druck setzen, obwohl er noch zahlungsfähig ist und sich weiterhin über die Finanzmärkte finanzieren kann. In der Eurokrise hat man das beobachten können. Deshalb gab man einzelnen Mitgliedstaaten über den EFSF und später über den ESM Kredite unter Bedingungen (die sogenannte Konditionalität), die dafür sorgen sollten, dass die Staaten Strukturreformen durchführen, flankiert durch die Geldpolitik. Allerdings mussten die OMTs damals gar nicht eingesetzt werden, weil allein die Ankündigung ausreichte, die Märkte zu stabilisieren. Unsere gegenwärtige Situation ist eine vollkommen andere. Der Schock hat alle getroffen, aus heiterem Himmel, unverschuldet. Wir haben kein wesentliches Moral-Hazard-Problem, und deshalb sind die Anreize, die sich mit einer Unterstützung verbinden, kein vorrangiges Thema. Insofern ist die Konditionalität nicht in derselben Weise geboten. Den Stabilitäts- und Wachstumspakt hat man erst einmal ausgesetzt, und beim ESM hat man sich auf ein Programm mit einer bewusst schwachen Konditionalität geeinigt. Es gibt ein allgemeines Verständnis, dass diese Art der Krise eine ganz andere ist als die Eurokrise. Darum brauchen wir auch in der Geldpolitik andere Instrumente. Das soll nicht heißen, dass es zukünftig nicht eine Situation geben kann, in der man das OMT-Programm einsetzt – es ist ein wichtiges Instrument in unserem Instrumentenkasten. Aber für die jetzige Situation ist es aus unserer Sicht nicht das geeignete Mittel.

Rund um das PEPP hat die EZB weitere Maßnahmen ergriffen, unter anderem hat sie die Anforderungen an die Sicherheiten für Kreditgeschäfte gelockert. Jetzt sind auch griechische Ramschanleihen akzeptabel. Muss man sich da nicht Sorgen machen? Fürchten Sie nicht steigende Ausfallraten?

Wir befinden uns in einer außergewöhnlichen Situation, und in einer außergewöhnlichen Situation sind außergewöhnliche Maßnahmen erforderlich. Das betrifft auch den Sicherheitenrahmen. Ein wesentliches Instrument, über das nicht so viel gesprochen wird wie über die Anleihekaufprogramme, besteht darin, dass wir den Banken sehr günstige Finanzierungsbedingungen bieten, wenn diese ihre Kreditvergabe aufrechterhalten (sogenannte gezielte längerfristige Refinanzierungsoperationen, TLTROs). Die Idee ist, dass die günstigen Finanzierungskonditionen an die Kreditnehmer weitergegeben werden, ob es Haushalte oder Unternehmer sind, und dass die Krise dadurch abgefedert wird. Gleichzeitig werden Anreize gesetzt, die Kreditvergabe fortzusetzen. Aber alle Kredite, die wir an die Banken vergeben, erfordern angemessene Sicherheiten. Das Maßnahmenbündel der EZB, das sich auf den Sicherheitenrahmen bezog, soll gewährleisten, dass den Banken tatsächlich genügend Sicherheiten zur Verfügung stehen. Es ist richtig, dass wir dabei die Risikotoleranz der Zentralbank erhöht haben – aber wir haben ein Risikomanagement, das uns hilft, die komplizierte Abwägung zwischen der Effektivität der Maßnahmen und den dabei entstehenden Risiken vorzunehmen. Außerdem muss man bedenken, dass es bei den Sicherheiten verschiedene Ebenen gibt. Damit es überhaupt zu einem Ausfall kommt, müsste zunächst die Bank den Kredit nicht bedienen, den sie bei uns aufgenommen hat, und zusätzlich müssten die Sicherheiten ausfallen. Die Ausfallraten, die zu erwarten sind, sind verhältnismäßig klein. Wir waren immer extrem konservativ, jetzt sind wir ein bisschen weniger konservativ – aber insgesamt ist die Absicherung immer noch sehr gut. Außerdem gibt es ja einen Sicherheitsabschlag, den Haircut, der dem Risiko angemessen Rechnung trägt: wenn eine Bank Sicherheiten im Wert von 100 Euro hinterlegt, bekommt sie keinen Kredit in Höhe von 100 Euro ausgezahlt, sondern je nach Qualität der hinterlegten Sicherheit etwas weniger.

Aber der Haircut ist jetzt im März seinerseits gestutzt worden.

Ja, das stimmt, um 20 Prozent. Wir sind in der Abwägung zu dem Schluss gekommen, dass man das gut vertreten kann. Und es gibt nach wie vor die Differenzierung: wenn ein Wertpapier riskanter wird, erhöht sich der Haircut. Das gilt auch bei denjenigen Wertpapieren, die wir weiterhin als Sicherheiten akzeptieren, selbst wenn sie aufgrund der Krise auf ein eigentlich zu niedriges Qualitätsniveau herabsinken.

Wenn wir schon vom Ausfallrisiko der Banken sprechen – ganz ist die Finanzkrise von 2008 doch noch gar nicht verwunden. Wo stehen wir jetzt in der Corona-Krise aus Ihrer Sicht, was die Stabilität der Banken im Euroraum angeht?

Eine derart schwere Krise wie die gegenwärtige kann auch am Finanzsystem nicht spurlos vorübergehen. Deshalb ist es einerseits so wichtig, dass die EZB großzügig Liquidität bereitstellt. Denn es besteht immer die Sorge, dass die Banken gerade in Krisenzeiten in der Kreditvergabe sehr zurückhaltend werden und dass sie dadurch die Krise noch weiter verschärfen. Man hat in der Finanzkrise gelernt, dass man das vermeiden sollte. Genau dazu dienen die TLTROs. Und andererseits gibt es die staatlichen Garantien für Kredite an Unternehmen, die in der Krise plötzlich ein Wegbrechen ihrer Einnahmen verkraften mussten. Hierdurch hat man die Ausfallrisiken bei den Banken reduziert. Außerdem hat man in der Aufsicht Zugeständnisse gemacht. Wir können von Glück sagen, dass wir es in den vergangenen Jahren geschafft haben, das Eigenkapital und die Liquidität der Banken zu stärken – vielleicht noch nicht genug, wie viele meinen, aber immerhin doch spürbar. Davon profitieren wir jetzt. Die Puffer, die aufgebaut wurden, können jetzt genutzt werden, um zu verhindern, dass es prozyklische Effekte gibt, die die Krise verstärken. Ob die Banken das tatsächlich machen, ist allerdings eine offene Frage. Man kann außerdem die Frage stellen, ob es sinnvoll ist, dass die Hilfen in der Regel Kredite sind: an Staaten wie an Unternehmen. Es besteht die Gefahr eines Schuldenüberhangs in den kommenden Jahren.

Welche Folgen fürchten Sie?

Ein Schuldenüberhang ist deshalb gefährlich, weil er dazu führen kann, dass zu wenig investiert wird. Die Begründung ist ganz einfach: wenn ein Unternehmen stark verschuldet ist, lohnen sich viele Investitionen nicht, weil die Erträge zunächst an die Gläubiger gehen und zu wenig beim Unternehmer hängen bleibt. Wenn wir in der Wirtschaft einen flächendeckenden Schuldenüberhang entstehen lassen, ist das fatal für die Investitionstätigkeit. Wir müssen dringend darüber nachdenken, wie sich das verhindern lässt. Da denkt man unmittelbar an Eigenkapitalfinanzierungen, die dieses Problem nicht in derselben Weise haben. Bei Aktiengesellschaften kann man über Vorzugsaktien nachdenken. Das eignet sich allerdings nicht für kleine mittelständische Unternehmen, die keine Aktien ausgeben. Ein internationales Forscherteam um Jan Krahnen hat sich Gedanken über ein solches eigenkapitalbasiertes Konzept gemacht.[4] Nach diesem Vorschlag bekommt ein Unternehmen Finanzhilfen, deren Rückzahlung an die Gewinnsteuerzahlung gekoppelt ist. Steuern zahlt nur, wer erfolgreich ist; das verleiht dem Ganzen seinen Quasi-Eigenkapitalcharakter. Im Detail gibt es Umsetzungsfragen, über die man diskutieren kann, aber in der Tendenz geht das in die richtige Richtung. Wenn zu viele Kredite ausfallen, trifft das die Banken und destabilisiert das Bankensystem. Wir müssen unbedingt versuchen zu verhindern, dass die jetzige Krise durch eine Bankenkrise weiter verschärft wird. Da müssen wir genau hinschauen und die Lehre aus den vergangenen Krisen ziehen, dass man schnell reagieren und rechtzeitig rekapitalisieren muss. Ich hoffe allerdings, dass das nicht erforderlich sein wird.

Wie gut funktionieren denn aus Ihrer Sicht die Mechanismen zur Rekapitalisierung und Abwicklung notleidender Banken, die man nach der Finanzkrise auf den Weg gebracht hat? Werden sie uns helfen, wenn es jetzt hart auf hart kommt?

Es kommt darauf an. In einem Forschungspapier, das ich an der Universität Bonn verfasst habe, habe ich gemeinsam mit zwei Koautoren empirisch analysiert, wie sich das Abwicklungsregime für Banken in einer Situation auswirkt, in der ein schwerer Schock eintritt – ob das dazu führt, dass das systemische Risiko im Bankensektor zunimmt oder sinkt.[5] Wir haben herausgefunden, dass das sehr davon abhängt, ob es sich um einen das ganze System erfassenden Schock handelt oder um einen, der nur isoliert auftritt. Die Studie zeigt, dass ein Schock, der das gesamte System erfasst, mit einem höheren Systemrisiko einhergeht, wenn man ein umfassenderes Abwicklungsregime vorfindet. Das heißt, dass das Abwicklungsregime, das ja eigentlich stabilisieren soll, in einer systemischen Krise destabilisieren kann. Das hat gegenwärtig eine gewisse Relevanz, als wir uns die Frage stellen müssen, was geschieht, wenn jetzt plötzlich viele Banken gleichzeitig Probleme bekommen. Ist es realistisch, dass wir mitten in einer schweren Krise viele Banken gleichzeitig restrukturieren oder abwickeln? In normalen Zeiten ist das schon ziemlich schwierig. Immerhin wirkt es dann stabilisierend. Aber in Krisenzeiten kann das Gegenteil der Fall sein.

Nicht sehr beruhigend.

Man muss sich jedenfalls überlegen, wie man damit umgeht, ohne das Abwicklungsregime dauerhaft zu beschädigen. Nützlich ist die Idee einer „Systemic risk exception“. Das soll heißen: im Extremfall, der sehr streng zu definieren ist, könnte man die Spielräume vergrößern. Das erleben wir derzeit in allen möglichen Bereichen, zum Beispiel beim Stabilitäts- und Wachstumspakt oder bei Beihilferegelungen. Oder denken wir an die Industriepolitik. Was gab es vor einem guten Jahr für eine Aufregung über das Strategiepapier von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier. Jetzt wird man vermutlich Dinge machen, die weit darüber hinausgehen.

Da stellt sich die Frage nach einer Exit-Strategie.

Genau, das ist eine ganz entscheidende Frage. Die kommt allerdings erst im zweiten Schritt. Im Moment müssen wir manche Dinge, die wir vorher für richtig gehalten haben, zumindest infrage stellen. Das darf nicht heißen, dass wir sie dauerhaft begraben. Aber infrage stellen müssen wir schon, ob sie jetzt, in einer der schwersten Krisen, die wir jemals hatten, nicht vielleicht sogar Öl ins Feuer gießen.

Wie weit sind wir denn gekommen auf dem Weg in die Bankenunion, die für mehr Sicherheit sorgen soll? Wie gut sind wir jetzt in dieser Hinsicht gerüstet für das, was noch kommen mag?

Leider hat man die Bankenunion nicht vollendet. Es fehlt noch die gemeinsame Einlagensicherung, man hat die Staatsanleihen nicht entprivilegiert und vieles mehr. Und jetzt erleben wir eine Zunahme der Fragmentierung, die nicht zuletzt durch die nationalen Garantien entsteht. Die Solvenz einer Bank hängt zunehmend davon ab, welches Volumen an Garantien es gibt und wie es um die Zahlungsfähigkeit des dahinterstehenden Staates bestellt ist. Insofern schaffen wir erneut einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Solvenz der Banken und Staaten – dabei war eigentlich das Ziel der Bankenunion, das zu entkoppeln. Insofern ist diese Krise zunächst einmal eher ein Rückschritt für die Bankenunion. Sie bietet aber gleichzeitig eine Chance: die Krise verdeutlicht die Notwendigkeit eines Vorantreibens der Banken- und Kapitalmarktunion zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit des europäischen Finanzsystems. Dabei geht es auch darum, den dringend notwendigen Strukturwandel im Bankensektor, durch Konsolidierung und grenzüberschreitende Fusionen, zu ermöglichen, um die Profitabilität der Banken zu stärken.

Da wird es einiges wieder aufzuräumen geben.

Die entscheidende Frage ist, wie man es am Ende schafft, zu den alten Regeln zurückzukehren. Die Bankenaufsicht zum Beispiel ist jetzt an vielen Stellen sehr großzügig, und das ist vollkommen richtig, aber irgendwann müssen wir in das alte System zurückfinden. Ansonsten entstünde ein dauerhafter Schaden. Viele haben sich seinerzeit stark dafür eingesetzt, dass es zu höheren Eigenkapitalanforderungen kommt, dass man die notleidenden Kredite rechtzeitig als solche klassifiziert und dass es eine entsprechende Risikovorsorge gibt. Irgendwann müssen wir uns wieder auf die alten Regeln besinnen. Im Moment ist es noch zu früh, aber trotzdem sollte das das Ziel sein.

Jetzt ist es noch zu früh, aber wann ist die Zeit reif?

Niemand weiß, was bei temporären Maßnahmen das Wort „temporär“ genau bedeutet. Die Zeitspanne kann sich als ziemlich lang erweisen. Aber man muss ganz klar sagen: jetzt ist erst einmal das Wichtigste, diese Krise zu überwinden und sicherzustellen, dass der Euroraum nicht in eine jahrelange Depression fällt, sondern im nächsten Jahr wieder auf einen ordentlichen Wachstumspfad zurückfindet und zumindest einen Teil der Verluste wieder wettmachen kann. Danach sieht es im Moment ja durchaus aus.

Sehr intensiv wurde auch über die Frage diskutiert, ob es jetzt nicht doch noch Eurobonds braucht. Insbesondere die Regierung Italiens hat sich das gewünscht. Man hat sich in Brüssel inzwischen auf andere Maßnahmen geeinigt. Ist das Thema damit vom Tisch?

Der Ruf nach Eurobonds wird immer wieder aufkommen und das Thema wird kontrovers bleiben, besonders wenn es sich um Konstruktionen mit gesamtschuldnerischer Haftung handelt. Das wird in einigen Mitgliedstaaten kritisch gesehen, in Deutschland oder in den Niederlanden. Das ist verständlich. Das Grundproblem ist, dass auch die Entscheidungsstruktur auf der europäischen Ebene angesiedelt sein sollte, wenn man die Haftung auf die europäische Ebene verschiebt. Der Vorschlag von Angela Merkel und Emmanuel Macron für einen europäischen Wiederaufbaufonds weist aber in diese Richtung. Ob man zukünftig eine regelmäßige europäische Verschuldung haben wird, wird auf längere Sicht davon abhängen, ob man bereit ist, weitere Kompetenzen und Aufgaben im fiskalischen Bereich auf die europäische Ebene zu heben. Es gibt noch eine weitere Dimension dieses Themas: der Euroraum hat kein sicheres wirklich europäisches Wertpapier. Für die Geldpolitik ist das ein Problem. Und auch wenn man die internationale Rolle des Euro stärken will, dann hilft es nicht, dass der Markt so fragmentiert ist – mit all den verschiedenen Anleihen, unter denen die deutschen als die sichersten gelten. Irgendwann wird man auf diese Frage eine Antwort finden müssen.

Also doch Vergemeinschaftung?

Das ist eine Möglichkeit, es ist aber nicht zwingend. Es gibt da einige interessante Vorschläge, wie man sichere europäische Wertpapiere ohne Vergemeinschaftung hinbekommen kann. Das könnte auch helfen, wenn wir den Banken-Staaten-Nexus lockern wollen. Wenn es ein sicheres europäisches Wertpapier gäbe, würde das viele Dinge vereinfachen.

Wie kann man sich solche Konstruktionen vorstellen?

Bei der Ausgestaltung sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen, wie der Einfluss auf die Haushaltsdisziplin und das Funktionieren der nationalen Anleihemärkte, auch vor dem Hintergrund der Finanzstabilität.[6] Eine Möglichkeit wären die ESBies von Marcus Brunnermeier und seinen Koautoren.[7] Dieses Konzept beruht auf einer Tranchierung. Man bildet einen Korb von Staatsanleihen und schneidet diesen in verschiedene Tranchen. Die sicherste Tranche ist dann das sichere Wertpapier. Ein anderes Modell sind die sogenannten E-Bonds.[8] Dabei wird ein Paket von Anleihen dadurch sicher, dass sie vorrangig gegenüber anderen bedient werden. Das kann die Preisstruktur am Finanzmarkt ändern und dadurch wichtige Anreize setzen. Möglicherweise ist das zweite Konzept realistischer. Das erste, relativ komplizierte Konzept wurde von manchen verworfen, weil es eine gewisse Grundskepsis gegenüber Verbriefungsstrukturen und Tranchierungen gibt und weil man mit Verbriefungen in der Finanzkrise, vor allem in den Vereinigten Staaten, schlechte Erfahrungen gemacht hat. Ich finde, man sollte trotzdem offen darüber diskutieren. Beide Modelle kommen ohne Vergemeinschaftung aus, und deshalb ist es vielleicht keine schlechte Idee, darüber noch einmal nachzudenken.

Abschließend lassen Sie uns noch auf die Anleihepolitik im Einzelnen kommen und speziell auf das „Greening“ – also den Kauf grüner Anleihen durch die EZB. Dass es notwendig ist, Klimarisiken zum Beispiel in den makroökonomischen Schätzungen explizit zu berücksichtigen, ist sicher unstrittig. Dass man aber vom Grundsatz der Marktneutralität abweicht, ist ordnungspolitisch schon heikler, zumal es auch noch andere wichtige Themen gibt, zum Beispiel eben die Pandemie, ein Risiko, dass die meisten von uns noch vor einiger Zeit nicht wirklich auf dem Schirm hatten.

Stimmt. Das Klima-Thema spielt in der von uns geplanten Monetary Policy Strategy Review, also in der Überprüfung unserer geldpolitischen Strategie, eine prominente Rolle. Bedingt durch die Krise mussten wir diese Strategieüberprüfung nach hinten herausschieben. Aber natürlich werden wir möglichst bald wieder darauf zurückkommen. Und in diesem Zusammenhang dürfte auch das Pandemie-Thema allgemeiner erörtert werden. Sie haben vollkommen Recht, diese Dinge müssen in unseren makroökonomischen Modellen erfasst werden. Das ist bislang allerdings nur sehr rudimentär der Fall; umfassende Modelle mit Klima- oder Pandemierisiken müssen überhaupt erst entwickelt werden. Das ist ein wesentlicher Teil der neuen Strategie. Die Bevorzugung bestimmter Anleihen in den Kaufprogrammen ist allerdings ein noch schwierigeres Thema. Grundsätzlich herrscht in der Tat bei den privaten Anleihekäufen das Prinzip der Marktneutralität.

Außerdem gibt es doch noch gar nicht so viele grüne Anleihen?

Genau. Wenn man da gezielt hineingehen wollte, würde man nicht allzu viel vorfinden, um es zu kaufen. Aber es ist nicht ganz unproblematisch. Wenn es darum geht, diese Anleihen zu kaufen, findet das viel Zuspruch. Aber wenn es darum ginge, aus geldpolitischen Gründen weniger davon zu kaufen oder gar zu verkaufen, dann ist nicht mehr so klar, dass das alle gut finden. Da begibt man sich in eine schwierige Situation. Wir haben bisher nicht abschließend erörtert, wie man damit umgeht. Das heißt aber nicht, dass man nicht am Ende einen Weg findet, es auf intelligente Art und Weise zu tun. Natürlich gibt es auch andere Bereiche, wo man Impulse setzen kann. In Portfolios, wo wir über eigene Mittel verfügen, zum Beispiel in unserem Pensionsfonds oder bei der Anlage unseres Eigenkapitals, haben wir größere Spielräume. Da können wir uns auf eine nachhaltige Strategie festlegen. Allerdings geht es dort um kleine Summen im Vergleich zum geldpolitischen Anleiheportfolio der EZB, das überwiegend aus Staatsanleihen besteht. Wenn man über grüne Anleihen spricht, meint man hingegen in der Regel private Anleihen. Wenn mehr grüne Anleihen emittiert werden, können wir übrigens automatisch mehr davon kaufen.

Wenn es darum geht, grüne Anleihen zu erwerben, kommen Sie da als EZB nicht an die so schwer zu ziehende Grenze dessen, was noch Geldpolitik und nicht schon Wirtschaftspolitik ist?

Das ist eine Diskussion, die wir führen werden, sobald sich die Lage ein wenig beruhigt hat. Die EZB hat ein ganz klares primäres Ziel, die Preisstabilität. Wir haben zusätzlich sekundäre Ziele, um die wir uns kümmern müssen, wenn das die Preisstabilität nicht beeinträchtigt. Dazu gehört die Nachhaltigkeit. Insofern ist es durchaus so, dass dieses Thema für uns von großer Bedeutung ist. Aber natürlich kann und darf die Geldpolitik nicht alles machen.

Wenn der grüne Markt so klein ist, dann würde die EZB ihn zudem als Nachfrager dominieren.

Das könnte passieren. Ein wesentliche Voraussetzung ist außerdem die Taxonomie – also die Frage: was ist überhaupt grün? Verwandt damit ist die Diskussion über das „Greenwashing“, also über die Deklaration von Aktivitäten als „grün“, die es nicht wirklich sind. Auf europäischer Ebene wurden in diesem Bereich schon Fortschritte erzielt, aber es gibt noch viel zu tun, um eine rigorose, verlässliche Klassifikation zu bekommen. Wir begleiten diese Prozesse und versuchen, Impulse zu geben, damit sich der Markt entwickeln kann. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es in Zukunft in diese Richtung gehen wird. Dies ist übrigens auch eine Chance für die europäische Kapitalmarktunion. Es ist ein erklärtes Ziel, dass es einen echten – also wirklich integrierten – europäischen Kapitalmarkt geben soll. Davon sind wir allerdings noch weit entfernt. Doch wenn etwas Neues entsteht wie in der nachhaltigen Finanzierung, dann ist es vermutlich leichter, etwas Europäisches zu entwickeln, als wenn man versucht, schon bestehende nationale Strukturen zu europäisieren. Wenn man sich also darum bemüht, diese Wertpapiere von vornherein europäisch zu konstruieren, dann kann das einen großen Impuls für die Kapitalmarktunion bedeuten. Das wäre für Europa sehr wichtig.

  1. [1]BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 5. Mai 2020 - 2 BvR 859/15.
  2. [2]Die “Monetary policy accounts” sind online verfügbar.
  3. [3]Schnabel, I. (2020), Narrative über die Geldpolitik der EZB – Wirklichkeit oder Fiktion?, Rede vor der Juristischen Studiengesellschaft, Karlsruhe, am 11. Februar 2020.
  4. [4]Boot, A., E. Carletti, H.-H. Kotz, J.-P. Krahnen, L. Pelizzon und M. Subrahmanyam (2020), Corona and Financial Stability 3.0: Try equity – risk sharing for companies, large and small, SAFE Policy Letter No. 81 (März 2020), Hrsg.: Leibniz Institute for Financial Research SAFE.
  5. [5]Beck, T., D. Radev und I. Schnabel (2020), Bank Resolution regimes and systemic risk, CEPR Working Paper 14724.
  6. [6]Alogoskoufis, S., M. Giuzio, T. Kostka, A. Levels, L. Molestina Vivar und M. Wedow (2020), How could a common safe asset contribute to financial stability and financial integration in the banking union?, Financial Integration and Structure in the Euro Area (März 2020), Hrsg.: Europäische Zentralbank.
  7. [7]Brunnermeier, M. K., S. Langfield, M. Pagano, R. Reis, S. van Nieuwerburgh und D. Vayanos (2017), ESBies: Safety in the tranches, Economic Policy 32 (90), S. 175-219, Hrsg.: Oxford Academic (Oxford University Press).
  8. [8]Leandro, Á. und J. Zettelmeyer, The search for a euro area safe asset, PIIE Working Paper 18-3 (März 2018, aktualisierte Version: Februar 2019).
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