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Von Widerstandsfähigkeit zu Stärke: nutzen wir das Potenzial unseres Binnenmarkts
Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, anlässlich des 35. Frankfurt European Banking Congress
Frankfurt am Main, den 21. November 2025
Gestatten Sie mir, meine Rede mit einem Zitat zu beginnen:
„Die Welt um uns herum steht nicht still.
In den letzten Jahren hat sich das internationale Umfeld in einer Art und Weise verändert, die keiner von uns erwartet hätte. Die Weltordnung der Nachkriegszeit hat vor unseren Augen Risse bekommen, neue (und ein paar alte) Mächte gewinnen an Einfluss, Technologien schreiten rasch voran, und die Aussichten für den Welthandel und die Finanzwelt sind unsicher.
Allenthalben herrscht Unsicherheit, Altbekanntes wird infrage gestellt – in der Politik ebenso wie in Diplomatie und Wirtschaft. Daher muss sich Europa Gedanken über seinen Platz in der Welt machen und seine Ambitionen neu setzen.“
Wahrscheinlich denken Sie jetzt: Sätze wie diese habe ich dieses Jahr schon oft in Reden gehört. Tatsächlich aber stammt dieses Zitat aus einer Rede vom November 2019. Genauer gesagt meiner ersten Rede als EZB-Präsidentin auf diesem Bankenkongress![1]
Damals drängte ich Europa, zu erkennen, dass sein altes Wachstumsmodell – Wachstum durch Export – unter Druck gerät.
Und ich rief zum Umdenken auf. Dazu, sich in einer unsicheren Welt auf die Entwicklung unserer heimischen Wirtschaft als Quelle der Widerstandskraft zu konzentrieren.
Meine Worte sollten kein Plädoyer für Protektionismus sein oder für eine nach innen gerichtete Politik.
Mir ging es vielmehr um Realismus. Darum, die Welt so zu sehen, wie sie ist. Und darum, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Lösung direkt vor uns lag: das ungenutzte Potenzial unseres eigenen Binnenmarkts.
Sechs Jahre später trifft diese Erkenntnis sogar noch mehr zu als damals.
Europa ist anfälliger geworden. Auch, weil wir für unsere Sicherheit und für kritische Rohstoffe auf andere Länder angewiesen sind. Die globalen Schocks haben sich verschärft: steigende US-Zölle, der Einmarsch Russlands in die Ukraine und die zunehmende Konkurrenz aus China.
Gleichzeitig herrscht Stillstand in unserem Binnenmarkt, gerade in Bereichen, die kritisch für künftiges Wachstum sind. Dies gilt für die Digitalisierung und die künstliche Intelligenz, aber auch für die Kapitalmärkte, die dies finanzieren werden.
„Und doch bewegt er sich“, um Galileos bekanntes Zitat etwas abzuwandeln. Europa beweist andauernde Widerstandsfähigkeit. Es offenbart Quellen von Stärke, die sich vergrößern könnten, wenn wir sie nur lassen.
Daher möchte ich mich heute mit der folgenden Frage befassen: Wie gelingt es uns, von „widerstandsfähig aber anfällig“ zu wahrer Stärke zu gelangen? Und was ist hierfür nötig?
Schwachstellen in Europas Wachstumsmodell
Europas Achillesferse ist, dass sein Wachstumsmodell für eine Welt gedacht war, die es in dieser Form bald nicht mehr geben wird.
Wir haben die Globalisierung mit offeneren Armen begrüßt als jede andere entwickelte Volkswirtschaft. In den zwei Jahrzehnten vor Corona hat sich der Außenhandel als Anteil des BIP in der EU fast verdoppelt, in den Vereinigten Staaten hingegen kaum verändert.[2]
Diese tiefe Integration brachte beträchtliche Vorteile: Die Zahl der Menschen, deren Arbeitsplatz von EU-Exporten abhängt[3], stieg um 75 % auf fast 40 Millionen.[4] Lange Zeit war dies eine Quelle der Widerstandskraft.
In der Zwischenzeit ist aus eben dieser Offenheit eine Schwäche geworden. Als Wachstumsmotor ist der Export mittlerweile weitaus weniger verlässlich, was das sich wandelnde internationale Umfeld widerspiegelt.
So gingen EZB-Fachleute Mitte 2023 davon aus, dass die Ausfuhren bis Mitte 2025 um etwa 8 % zulegen werden. Tatsächlich sind sie überhaupt nicht gewachsen. Und in den kommenden zwei Jahren dürften die Exporte das Wachstum sogar bremsen.[5]
Am deutlichsten bekamen dies Länder zu spüren, in denen das verarbeitende Gewerbe eine große Rolle spielt. Sie mussten mit einer anhaltenden Flaute in der Industrieproduktion zurechtkommen.
Infolgedessen hat sich das Wachstum in den Euro-Ländern unterschiedlich entwickelt.
Zugleich hatten wir aufgrund dieses exportbasierten Wachstumsmodells lange Zeit einen Leistungsbilanzüberschuss, wodurch unser Wohlstand zunehmend von anderen Ländern abhängt – insbesondere von den Vereinigten Staaten.
Heutzutage handelt es sich bei fast 10 % der gesamten Aktienanlagen der Gebietsansässigen im Euroraum um US-Titel. Die Anlagen belaufen sich insgesamt auf 6,5 Billionen € und haben sich somit seit Ende 2015 mehr als verdoppelt.[6]
Diese Reaktion war rational: Seit 2000 konnten an den US-Märkten fünfmal höhere Renditen erwirtschaftet werden als in Europa. Dadurch ist jedoch ein Teufelskreis entstanden.
Indem die US-Märkte die europäischen Gelder in hochproduktive Sektoren lenken, vergrößert sich das Leistungsgefälle zwischen den beiden Volkswirtschaften. Infolgedessen fließen noch mehr europäische Ersparnisse über den Atlantik.
Die Folge: Unsere heimische Produktivität stagniert, während unsere Abhängigkeit von anderen Ländern steigt.
Außerdem haben wir es nun mit einer neuen Art von Anfälligkeit zu tun, die alle großen Volkswirtschaften betrifft: wir sind abhängig von kritischen Rohstoffen und Schlüsseltechnologien, und das wird zunehmend als Druckmittel eingesetzt.
Eine Analyse der EZB zeigt, dass bei über 80 % der großen europäischen Firmen höchstens drei Zwischenhändler zwischen ihnen und einem chinesischen Lieferanten für seltene Erden stehen.[7] Die jüngsten Angebotsschocks – etwa der Chip-Mangel in der Automobilindustrie – haben gezeigt, dass ein einziger Engpass ganze Branchen lahmlegen kann.
Diese Schwachstellen lösen keine dramatischen Krisen aus, höhlen das Wachstum aber mit der Zeit aus, denn mit jedem neuen Schock erhält unser Wachstum einen Dämpfer.
Mit der Zeit erreicht der kumulierte Effekt aus entgangenem Wachstum und eingebüßter Produktivität ein beträchtliches Ausmaß.
Mitte 2023 gingen EZB-Fachleute davon aus, dass die Wirtschaft bis Mitte 2025 um insgesamt 3,6 % wachsen wird. Tatsächlich betrug das Wachstum aber nur 2,3 %. Uns ist also das Wachstum eines ganzen normalen Jahres entgangen, und auch unsere Produktivität fiel schlechter aus.
Quellen der Resilienz in der Binnenwirtschaft
Auch wenn uns die sich wandelnde Welt unsere Schwachstellen aufgezeigt hat, brachte 2025 auch die verborgenen Stärken Europas zum Vorschein. Wie wir in diesem Jahr sehen konnten, kann eine widerstandsfähige heimische Wirtschaft Europa vor globalen Turbulenzen schützen.
Drei Quellen heimischer Stärke haben dabei geholfen, die Auswirkungen globaler Schocks abzufedern – unsere Bevölkerung, unser Potenzial und unsere Politik.
Erstens: unsere Bevölkerung.
Glücklicherweise war der Arbeitsmarkt im Euroraum außergewöhnlich stark und bewahrte sich auch bei schwächerem Wachstum eine erstaunliche Widerstandskraft.
Für gewöhnlich wächst die Beschäftigung etwa halb so schnell wie das reale BIP. Seit Ende der Pandemie liegt dieses Verhältnis in Europa jedoch bei fast 1:1.[8]
Aus dieser Stärke ist ein positiver Kreislauf entstanden: Steigende Beschäftigungszahlen stützen den Konsum, was sich wiederum positiv auf die Produktion im Dienstleistungssektor auswirkt. Dadurch sind noch mehr Arbeitsplätze entstanden, vor allem in arbeitsintensiven Sektoren.[9]
Zweitens: unser Potenzial.
Obwohl der Eindruck besteht, Europa hinke den anderen Ländern bei der KI hinterher, setzen die europäischen Unternehmen den digitalen Wandel zügig um – dadurch werden Investitionen resilienter gegenüber der globalen Unsicherheit.
Die Sachinvestitionen sind in den letzten beiden Jahren angesichts der Abschwächung im verarbeitenden Gewerbe zurückgegangen. Bei den immateriellen Investitionen wurde hingegen ein deutlicher Anstieg verzeichnet.[10] Somit blieben die Unternehmensinvestitionen insgesamt weitgehend stabil.
Unternehmen investieren weiterhin in KI und ihre digitale Infrastruktur, denn dies ist ein Muss, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen.
Drittens: unsere Politik.
Vor allem die finanzpolitischen Maßnahmen haben antizyklisch gewirkt. Sie haben die Wirtschaft gestützt und nicht Abschwünge verstärkt, wie es beispielsweise nach der Finanzkrise zu beobachten war.
Die finanzpolitischen Pakete, die derzeit für Verteidigung und Infrastruktur umgesetzt werden, allen voran hier in Deutschland, kommen für Europa zur richtigen Zeit und werden sich messbar auf das Wachstum auswirken.
Laut den Schätzungen der EZB-Fachleute dürften die höheren staatlichen Investitionen in den Jahren 2025 bis 2027 etwa ein Drittel des Handelsschocks ausgleichen.[11]
Auch die EZB leistet ihren Beitrag durch Gewährleistung von Preisstabilität. Wir haben die Leitzinsen seit deren Höchststand um 200 Basispunkte gesenkt. Dies schlägt sich zunehmend in Form von günstigeren Finanzierungsbedingungen nieder, was die Nachfrage stützt.
Wir werden unsere Geldpolitik auch künftig bei Bedarf anpassen, damit die Inflation auf unserem Zielwert bleibt.
Gemeinsam werden diese drei Quellen der Resilienz dazu beitragen, das Wachstum des Euroraums zu verankern. Die Binnennachfrage dürfte in den kommenden Jahren der wichtigste Wachstumsmotor sein.[12] Diese Verlagerung wird voraussichtlich auch dazu beitragen, den Leistungsbilanzüberschuss zu verringern, der sich seit seinem Höchststand im Jahr 2018 bereits halbiert hat.[13]
Das Potenzial des Binnenmarkts
Diese Erfahrung verdeutlicht die Kraft einer widerstandsfähigen heimischen Wirtschaft, die von einer offenen strategischen Autonomie gestützt wird. Sie zeigt aber auch, wie viel Potenzial Europa weiterhin brach liegen lässt.
Selbst heute, nach über 30 Jahren Binnenmarkt, sind die Handelshemmnisse innerhalb der EU in Schlüsselbereichen immer noch zu hoch.
Analysen der EZB kommen zu dem Ergebnis, dass interne Hemmnisse auf dem Dienstleistungs- und dem Warenmarkt Zöllen von rund 100 % bzw. 65 % entsprechen.[14] Natürlich sollten wir nicht erwarten, dass diese Hemmnisse vollständig verschwinden – nicht alle Produkte sind gleichermaßen handelbar, und nationale Präferenzen werden immer eine Rolle spielen. Die Politik kann bestimmte Spannungen mindern, aber nicht vollends aus der Welt schaffen.[15]
Zwei Dinge sollten wir hingegen erwarten.
Zum einen, dass die Hemmnisse für jene Branchen, die kritisch sind für künftiges Wachstum, so niedrig sind, dass diese auf einem wahrhaft europäischen Markt agieren können.
Bei digitalen Dienstleistungen, dem Motor künftiger Innovationen, und bei den Kapitalmärkten, die für die Finanzierung sorgen müssen, ist dies eindeutig nicht der Fall.
Zum anderen sollten wir erwarten, dass es einen klaren Vorteil hat, sich innerhalb statt außerhalb des Binnenmarkts zu befinden – mit anderen Worten, dass die internen Hemmnisse geringer sind als die externen.
Doch bei Dienstleistungen trifft dies derzeit ebenfalls nicht zu: Hier sind die Hemmnisse für den grenzüberschreitenden Handel innerhalb Europas in den letzten 20 Jahren nicht schneller gesunken als die Hemmnisse für internationale Unternehmen, die hier Geschäfte machen wollen.
Dies erklärt zum Teil, warum der Handel mit Dienstleistungen innerhalb der EU nur etwa ein Sechstel des BIP ausmacht – etwa so viel wie unser Dienstleistungshandel mit der übrigen Welt. Und das, obwohl der Anteil von Dienstleistungen an der europäischen Wirtschaft zurzeit drei Viertel beträgt.
Dies ist eine enorme Verschwendung von Potenzial – insbesondere in einer Zeit, in der wir uns stärker auf uns selbst als auf andere verlassen müssen. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass es keiner radikalen Veränderungen bedürfte, um diese Zugewinne zu erzielen.
Laut unseren Analysen könnten interne Hemmnisse bei Waren um etwa 8 und bei Dienstleistungen um rund 9 Prozentpunkte sinken, wenn alle EU-Länder ihre Hemmnisse auf dasselbe Niveau wie die Niederlande senken würden.[16]
Schon ein Viertel davon würde ausreichen, um dem Binnenhandel genügend Schwung zu verleihen, damit er die Auswirkungen der US-Zölle auf das Wachstum ausgleicht.[17]
Die Frage, die wir jetzt stellen müssen, lautet also: Warum unternehmen wir diese Schritte nicht?
Hin zu einer neuen Governance
Die Antwort liegt letzten Endes in der Governance.
Eine vollständige Harmonisierung sämtlicher nationaler Rechts- und Verwaltungsvorschriften ist weder realistisch noch ist sie überhaupt immer nötig. Doch gerade in den Bereichen, wo Fortschritte am wichtigsten wären, fehlen uns wirksame Instrumente zum Hemmnisabbau.
Meiner Meinung nach könnten uns drei Schritte dabei helfen, voranzukommen.
Der erste Schritt ist die Wiederbelebung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung. Dieser war der Motor der Liberalisierung und hat den Binnenmarkt in den 1980er-Jahren angetrieben.
Gegenseitige Anerkennung bedeutet: Eine Ware oder eine Dienstleistung, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig angeboten bzw. erbracht wird, sollte in der gesamten EU in Verkehr gebracht werden dürfen, ohne dass sämtliche Vorschriften aller anderen Länder eingehalten werden müssen.
Beispielsweise gibt es in der EU für einige sektorale Berufe ein System der automatischen Anerkennung von Berufsqualifikationen.
Eine solche gegenseitige Anerkennung gibt es auch bei Finanzdienstleistungen. Heute profitieren die Banken vom „Europäischen Pass“, bei dem eine einzige, von der EZB gewährte Lizenz genügt, damit Banken ihre Dienstleistungen in ganz Europa anbieten können. Sie sind aber weiterhin mit verschiedenen Regeln bei grundlegenden Elementen des Rahmens, in dem sie arbeiten, konfrontiert. Die Vollendung der Bankenunion und die Vertiefung unserer Kapitalmärkte hätte daher transformierende Wirkung und würde unseren Weg hin zu einem wahrhaft integrierten Heimatmarkt beschleunigen.
Gleiches gilt für die digitale Wirtschaft. Der Europäische Pass ist quasi die gegenseitige Anerkennung im Bankensektor: Wenn alle Mitgliedstaaten die von anderen Mitgliedsländern anerkannten digitalen Identitäten, Vertrauensdienste und anderen Berechtigungsnachweise ebenfalls anerkennen, so würde die Interoperabilität deutlich verbessert, und versteckte Kosten, die das Wachstum der digitalen Märkte in Europa bremsen, würden entfallen.
Der zweite Schritt besteht in der Straffung der Beschlussfassung durch Ausweitung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit auf jene Bereiche, von denen das künftige Wachstum Europas abhängt.
Auch wenn die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit entscheidend zur Förderung der Integration beigetragen hat, ist sie inzwischen ziemlich an ihre Grenzen gestoßen. In mehreren kritischen Bereichen verhindert das weiter bestehende Erfordernis der Einstimmigkeit im Europäischen Rat nach wie vor sinnvolle Fortschritte hinsichtlich der Vollendung des Binnenmarkts.
Die Besteuerung ist das beste Beispiel. Nationale Vetos blockieren Fortschritte bei Reformen wie der Harmonisierung der Mehrwertsteuervorschriften oder der Einführung einer gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage. Infolgedessen müssen sich die Unternehmen in einem Labyrinth aus fragmentierten Steuerregelungen zurechtfinden.
Besonders schädlich ist diese Fragmentierung in einer Welt digitaler Geschäftsmodelle und immaterieller Vermögenswerte, in der die Steuerpolitik nicht allein innerhalb nationaler Grenzen gesteuert werden kann.
So muss beispielsweise eine digitale Plattform, die Cloud- oder Softwaredienste in ganz Europa anbietet, derzeit die Anforderungen 27 unterschiedlicher Mehrwertsteuersysteme erfüllen. Dabei hat jedes von ihnen seine eigene Definition davon, wo die Wertschöpfung für Steuerzwecke erfolgt.
Diese Komplexität begünstigt die großen US-Unternehmen, die die damit verbundenen Kosten tragen können. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was Europa braucht, wenn es seine eigenen digitalen Champions fördern will.
Wenn wir zur Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit übergehen und wo nötig die Passerelle-Klausel anwenden, könnte dies bei der Überwindung der Pattsituation helfen. Die Passerelle-Klausel ermöglicht es dem Europäischen Rat, in bestimmten Bereichen ohne Änderung der Verträge von der Einstimmigkeit zur Mehrheitsbeschlussfassung zu wechseln.
Der dritte Schritt besteht darin, bei der Vereinfachung einen radikaleren Ansatz zu verfolgen. Und damit meine ich nicht, Vorschriften im Rahmen von Omnibus-Paketen einfach zusammenzustreichen.
Am schnellsten erreicht man eine echte Vereinfachung nicht durch Aufhebung bestehender Vorschriften, sondern durch die Schaffung eines neuen sogenannten 28. Regimes. Dabei handelt es sich um einen optionalen EU-Rechtsrahmen, der neben dem nationalen Recht besteht, es aber nicht ersetzt.
Dieser Rahmen würde es Unternehmen ermöglichen, sich in bestimmten Bereichen an ein einheitliches europäisches Regelwerk zu halten, ohne dass eine vollständige Harmonisierung zwischen allen Mitgliedstaaten erforderlich wäre.
Besonders gut eignet sich hierfür das Gesellschaftsrecht[18], wie Letta und Draghi in ihren Berichten vorschlagen.
Mit einem europäischen Gesellschaftsrecht würde es für Unternehmen – insbesondere Start-ups und Scale-ups – einfacher, grenzüberschreitend tätig zu sein. Die Komplexität 27 verschiedener nationaler Systeme würde deutlich verringert.
Dieser Ansatz hat zuvor funktioniert. Sowohl die Unionsmarke (1993) als auch das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster (2001) fielen unter das 28. Regime. Sie bieten parallel zu nationalen Rechten optionale EU-weite geistige Eigentumsrechte. Und beide fanden bei Unternehmen, die in mehreren Märkten tätig sind, breiten Anklang.
Ihr Erfolg zeigt, wie ein optionaler EU-Rahmen die Fragmentierung verringern und sogar für einen gesunden „Systemwettbewerb“ sorgen kann: Wenn sich Unternehmen für die EU-Vorschriften entscheiden, geraten die nationalen Systeme unter Zugzwang, sich ebenfalls anzupassen.
Die Europäische Kommission plant, einen Vorschlag im Rahmen des 28. Regimes vorzulegen. Dies soll im Kontext ihres neuerlichen und erfreulichen Bestrebens erfolgen, klar vorzugeben, bis wann die im „Fahrplan für den Binnenmarkt bis 2028“ festgestellten Hindernisse beseitigt sein müssen. Etwaige Fortschritte werden jedoch vom politischen Willen abhängen.
Der erste Schritt mag bescheiden sein – etwa die Schaffung einer digitalen Unternehmensidentität, die Unternehmen ein einziges vertrauenswürdiges Profil für die EU-weite Online-Registrierung und für Online-Geschäfte bietet – er könnte aber ein starker Präzedenzfall für weiterreichende Reformen sein.
Wenn uns dies gelingt, wären Unternehmen, die auf der Grundlage wahrhaft europäischer Systeme wachsen könnten, auch am besten in der Lage, Zugang zu gesamteuropäischen Finanzierungsmöglichkeiten zu erhalten. Dies würde dazu beitragen, unsere enormen Ersparnisse in produktive Investitionen zu lenken.
Die Vollendung des Binnenmarkts – in der Realwirtschaft und im Finanzsektor – ist daher ein sich gegenseitig verstärkendes Projekt, das die Wettbewerbsfähigkeit Europas und seine Fähigkeit, in die Zukunft zu investieren, stärkt.
Schlussbemerkungen
Die Welt wird sich für Europa nicht langsamer drehen – wir haben es aber in der Hand, wie wir weiter vorgehen.
Wenn wir unseren Binnenmarkt wirklich einheitlich gestalten, wird das Wachstum Europas nicht mehr von den Entscheidungen anderer abhängen, sondern von unseren eigenen.
Das war vor sechs Jahren meine Botschaft. Und heute ist diese Botschaft schlichtweg noch dringlicher.
Weitere sechs Jahre voll Untätigkeit – und entgangenem Wachstum – wären nicht nur enttäuschend – sie wären unverantwortlich.
Aber die Erfahrungen des Jahres 2025 sollten uns auch zuversichtlich stimmen.
Es hat gezeigt, dass unsere Wirtschaft über echte Quellen der Stärke verfügt – und dass diese Stärken vervielfacht werden können, wenn wir entsprechend handeln.
Die Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, sind für uns nicht unerreichbar.
Für sie braucht es keine neuen Verträge, keine radikale Neugestaltung unserer Union, sondern nur den politischen Willen, die uns bereits zur Verfügung stehenden Instrumente auch zu nutzen.
Wenn wir diesen Willen aufbringen können, wird Europa nicht nur widerstandsfähig, sondern wahrhaft stark sein.
C. Lagarde, The future of the euro area economy, Rede anlässlich des Frankfurt European Banking Congress, Frankfurt am Main, 22. November 2019.
In der EU stieg der Außenhandel als Anteil des BIP von 26 % auf 43 %. In den Vereinigten Staaten wiederum erhöhte er sich von 23 % auf gerade einmal 26 %.
Exporte in Länder außerhalb der EU.
J.M. Rueda-Cantuche, P. Piñero und Z. Kutlina-Dimitrova, EU Exports to the World: Effects on Employment, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg, 2021.
Mehr hierzu in Fußnote 12.
EZB, Vierteljährliche Zahlungsbilanz und Auslandsvermögensstatus für den Euroraum: viertes Quartal 2024, Statistische Pressemitteilung, 4. April 2025.
M. Banin, M. D’Agostino, V. Gunnella, und L. Lebastard, How vulnerable is the euro area to restrictions on Chinese rare earth exports?, EZB, Wirtschaftsbericht 6/2025.
Zwischen Ende 2021 und Mitte 2025 stieg die kumulierte Beschäftigung um 4,1 % – ein Anstieg der Beschäftigtenzahl von 6,3 Millionen – während das reale BIP um 4,3 % zunahm. Siehe C. Lagarde, Beyond hysteresis: resilience in Europe’s labour market, Rede auf dem jährlichen Economic Policy Symposium „The policy implications of labour market transition“ der Federal Reserve Bank of Kansas City in Jackson Hole, 23. August 2025.
R. Anderton, T. Aranki, B. Bonthuis und V. Jarvis, Disaggregating Okun's law: decomposing the impact of the expenditure components of GDP on euro area unemployment, Working Paper Series der EZB, Nr. 1747, Dezember 2014.
Ohne volatile irische Vermögenswerte.
C. Lagarde, Trade wars and central banks: lessons from 2025, Rede bei der 4. internationalen geldpolitischen Konferenz der finnischen Notenbank, Helsinki, 30. September 2025.
Die Fachleute der EZB gehen davon aus, dass die Binnennachfrage zwischen dem zweiten Quartal 2025 und dem Schlussquartal 2027 insgesamt 3,1 Prozentpunkte zum Wachstum beitragen wird. Die Exporte wiederum werden es den Projektionen zufolge um 0,6 Prozentpunkte dämpfen. Siehe EZB, Gesamtwirtschaftliche Euroraum-Projektionen von Fachleuten der EZB, September 2025.
C. Lagarde, Einleitende Anmerkungen, Rede beim Panel zum weltwirtschaftlichen Ausblick im Rahmen des 40. jährlichen internationalen Bankenseminars der G30, Washington D.C., 18. Oktober 2025.
R. Bernasconi, N. Cordemans, V. Gunnella, G. Pongetti und L. Quaglietti, What is the untapped potential of the EU Single Market?, EZB, Wirtschaftsbericht 8/2025 (im Erscheinen). Diese „Zolläquivalente“ sind als Messgrößen von geschätzten Handelsspannungen zu verstehen, nicht als tatsächlich von Regierungen verhängte Zölle. In ihnen spiegelt sich eine Kombination aus politisch bedingten Hemmnissen und strukturellen oder kulturellen Faktoren wider – etwa Verbrauchervorlieben und unterschiedliche Geschmäcker. Dem ist nicht allein durch politische Maßnahmen direkt beizukommen.
K. Head und T. Mayer, No, the EU does not impose a 45% tariff on itself, VoxEU column, Centre for Economic Policy Research, 13. November 2025.
Siehe R. Bernasconi et al. (2025), a. a. O.
Simulationen der EZB zufolge würde dieser Abbau von Hemmnissen den Handel innerhalb der EU um rund 3 % steigern. So würde der Rückgang des BIP-Wachstums um 0,7 Prozentpunkte zwischen 2025 und 2027 ausgeglichen werden, der durch US-Zölle und die damit verbundene Unsicherheit verursacht wurde.
Bislang stützen sich die meisten Rechtsreformen zur Verbesserung des Geschäftsumfelds auf eine „weiche“ Koordinierung, freiwillige Standards oder Richtlinien für eine beschränkte Harmonisierung. Dieser Ansatz spiegelt nationale Befindlichkeiten in bestimmten Bereichen wider (z. B. Gesellschaftsrecht, Steuerrecht oder Arbeitsrecht), die weiterhin vornehmlich der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten unterliegen. Bisherige Versuche einer weichen Konvergenz haben jedoch nur zu bescheidenen Ergebnissen geführt.
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